Case 01: Schneider Electric

KI im großen Stil

Schon früh hat der Elektronikkonzern Schneider Electric das Potenzial von Künstlicher Intelligenz für sich erkannt – und beschlossen, das Thema strategisch anzugehen. Ein Chief AI Officer und mehrere KI-Hubs in verschiedenen Ländern verfolgen eine KI-Strategie, die auf Skalierung angelegt ist.

„Wir wollten unbedingt vermeiden, dass wir KI-Anwendungen nur im Rahmen einzelner Pilotprojekte oder für eine einzelne digitale Fabrik ins Unternehmen holen“, sagt Philipe Rambach. Er ist der erste Chief AI Office (CAIO) bei Schneider Electric, einem französischen Hersteller von Elektronik-Komponenten. In dieser vor zwei Jahren neu geschaffenen Position soll er Künstliche Intelligenz im großen Maßstab umsetzen. „Unser Ziel ist, unser Unternehmenswissen aus unseren Geschäftsbereichen Energiemanagement und Industrieautomation gezielt mit KI-Wissen zu verbinden“, erklärt er. „Dazu haben wir KI-Hubs geschaffen, die KI-Experten mit unseren Fachexperten in Kontakt bringen.“

Philippe Rambach

Chief AI Officer bei Schneider Electric

Seine erste Amtshandlung war daher, die Mitarbeiter mit KI-Expertise im Unternehmen zu identifizieren und sie in den drei neu geschaffenen KI-Hubs in Indien, Frankreich und den USA zusammenzubringen. Seither baut er die aktuell 250 Personen starken Teams systematisch weiter aus.

Die Spezialisten bringen das nötige Know-how mit, um KI-Anwendungen zu programmieren, Modelle zu entwickeln und zu trainieren und Daten zu analysieren. Ihre Aufgabe ist, als zentrale Schnittstelle für KI-Themen mit allen Fachbereichen zusammenzuarbeiten.

Dabei verfolgen sie drei Ziele, erklärt Rambach. Erstens: „Wir wollen unsere eigenen Prozesse automatisieren und effizienter machen.“

Ein Team des KI-Hubs hat zum Beispiel eine Anwendung entwickelt, mit der das Unternehmen Kundenanfragen schneller den richtigen Fachexperten zuordnen kann. So werden über alle Geschäftsbereiche hinweg Kosten eingespart.

Zweitens: „Wir entwickeln neue, KI- gestützte Produkte und Dienstleistungen und rüsten unsere bestehenden Angebote mit zusätzlichen KI-Anwendungen auf.“ Ein Beispiel: die KI-gesteuerte Innovationsplattform EcoStruxure Microgrid Advisor, mit deren Hilfe Unternehmen den Verbrauch, die Erzeugung und die Speicherung von Energie automatisch prognostizieren und optimieren können. Und drittens: „Ein speziell eingerichtetes KI-Consulting-Team berät Kunden dabei, KI-Anwendungen sinnvoll einzusetzen.“ Das Team bietet Beratungsdienste für Endverbraucher, zum Beispiel in der Energie- und Chemie-Branche, sowie in Versorgungsunternehmen an.
 

Die KI-Investitionen zahlen sich bereits in vieler Hinsicht aus, wie Rambach berichtet: Neben den Effizienzgewinnen im eigenen Unternehmen habe Schneider Electric mithilfe der KI-Strategie auch eine Steigerung der Innovationskraft erreicht. Seit dem Start der „AI at Large“-Strategie hat das Unternehmen bereits 18 KI-Technologie-Patente angemeldet, 20 interne KI-Anwendungen entwickelt und 15 eigene Produkte mithilfe Künstlicher Intelligenz aufgewertet. Das wichtigste Learning der vergangenen Jahre: „Entscheidend ist, strategisch immer beim Geschäftsmodell und dem zu lösenden Problem anzufangen und nicht bei der Frage, was eine neue Technologie möglicherweise kann.“

Case 02: Neura Robotics

Roboter mit Sinn und Verstand

Das baden-württembergische Start-up Neura Robotics entwickelt Roboter, die durch Sensoren Sinneseindrücke sammeln und diese mithilfe einer KI auswerten. Das eröffnet neue Möglichkeiten für produzierende Unternehmen.

Etablierte Roboterhersteller und Start-ups arbeiten unter Hochdruck daran, marktreife kognitive Roboter zu entwickeln. Ein Innovationssprung ist dabei einer noch jungen Firma aus Deutschland gelungen: Schon kurz nach der Gründung im Jahr 2019 stellte Neura Robotics aus Metzingen in der Nähe von Stuttgart den weltweit ersten marktreifen kognitiven Roboter vor – und zog damit international Aufmerksamkeit auf sich. „MAiRA“ kann autonom handeln, weil er in der Lage ist, seine Umgebung in Echtzeit wahrzunehmen. Dies sorgt für eine höhere Präzision und Effizienz – sowie für eine bessere und flexiblere Interaktion mit den menschlichen Kollegen.

David Reger

Gründer und CEO von Neura Robotics

Sensoren zur Umgebungswahrnehmung sind in der Robotik erst einmal nichts Revolutionäres. Aber: „Im Zusammenspiel von Sensoren und Künstlicher Intelligenz ergeben sich neue Anwendungsmöglichkeiten“, erklärt David Reger, CEO von Neura Robotics. Roboter, die wie „MAiRA“ für die interaktive Zusammenarbeit mit Menschen entwickelt werden, bezeichnet man auch als Cobots (engl.: „Collaboration“ und „Robot“). Die Cobots von Neura Robotics kommen zum Beispiel in der Mess- und Schweißtechnik, beim Entgraten oder auch in der Logistik und Montage zum Einsatz.

Ein großer Unterschied zu klassischen Industrierobotern: „Normalerweise plant ein Roboter seine Bewegungen vorab und spielt diese dann immer wieder weitgehend unverändert ab“, erklärt Reger.

Seine Cobots hingegen berechnen ihre Bewegungen jede Millisekunde komplett neu und können so auf äußere Einflüsse direkt reagieren. So wurden zum Beispiel bei Schweißarbeiten für die perfekte Schweißnaht bislang gut ausgebildete Mitarbeiter benötigt, die genau beurteilen können, ob sie an der richtigen Stelle schweißen, den richtigen Druck spüren und hören, ob das Geräusch so klingt, wie es klingen soll. All das können kognitive Roboter dank eingebauter Mikrofone, 3D-Kameras und Drehmomentsensoren nun ebenfalls leisten – und auf diese Weise Unternehmen angesichts des Fachkräftemangels entlasten.

Neura Robotics stellt neben der Hardware auch eine offene Plattform zur Verfügung, das „Neuraverse“, wie Reger sie nennt. Hier können Partner selbst individuelle Anwendungen entwickeln und die Roboter mit deren Hilfe weiter trainieren. So lernen die Cobots an ihrem „Arbeitsplatz“ immer weiter hinzu.
 

Reger ist davon überzeugt, dass nur durch intensive Entwicklungszusammenarbeit von KI-Spezialisten und Anwender-Unternehmen kognitive Robotik im großen Stil Einzug in die Industrie halten kann. Dazu arbeitet Neura Robotics zum Beispiel mit dem japanischen Roboterhersteller Kawasaki an einer gemeinsamen Produktlinie. So will man die Automatisierung im industriellen Maßstab mit den Vorteilen der kollaborativen Robotik kombinieren.

Das Interesse an den kognitiven Robotern ist groß: Laut eigenen Aussagen sollen Aufträge mit einem Volumen von mehr als 450 Millionen Euro bei Neura Robotics in den Startlöchern stehen. Der tatsächliche Bedarf der Kunden sei noch wesentlich höher, ist sich Reger sicher.

Case 03: Sima.ai

KI-Chips für mobile Anwendungen

Das kalifornische Start-up Sima.ai hat mit seinen KI-Chips einen Leistungssprung geschafft, der viele etablierte Wettbewerber überrascht hat – und neue KI-Anwendungen ermöglicht.

Wer baut die besten, schnellsten, effizientesten und leistungsfähigsten KI-Chips? Um diese Frage zu beantworten, lädt die US-amerikanische NGO MLCommons zweimal jährlich Hersteller mit ihren jüngsten Neuentwicklungen ein, in verschiedenen Kategorien gegeneinander anzutreten.

Krishna Rangasayee

Gründer und CEO von Sima.ai

Einer der Überraschungssieger der MLPerf genannten Wettbewerbe war das Start-up Sima.ai aus dem kalifornischen San José. Der Chip des vor fünf Jahren gegründeten Unternehmens schnitt bei Geschwindigkeit und Stromverbrauch im Bereich „Closed Edge REsNet50“ um ganze 50 Prozent besser ab als der bisherige Rekordhalter NVIDIA mit seinem Orin-AGX-Chip.

Konkret bedeutet das: Daten aus dem Betrieb von mobilen, vernetzten Geräten und Maschinen, wie Kameras und Robotern, oder auch von Fahrzeugen können mit den Sima-Chips deutlich schneller verarbeitet werden als mit bisher üblichen Modellen. Und das bei wesentlich geringerem Energieverbrauch.

Leistungsfähige Hardware kann für den erfolgreichen Einsatz von Künstlicher Intelligenz entscheidend sein. Doch KI-Chip ist nicht gleich KI-Chip: Design und Leistungsdaten müssen zum jeweiligen Einsatzgebiet passen. Auch die Entscheidung, ob die entsprechende Software etwa in einer Cloud oder auf internen Servern arbeitet, spielt eine Rolle.

Der hoch spezialisierte Chip von Sima.ai stellt seine Vorgänger in einem wichtigen Anwendungsbereich in den Schatten: dem Einsatz in mobilen Geräten, die oft mit vergleichsweise wenig Energie auskommen müssen und auch außerhalb eines Netzwerks funktionieren müssen. KI-Chips auf diesem Leistungsniveau waren für diesen Zweck bislang meist zu teuer und verbrauchten zu viel Energie. Daher konnten sie häufig nur für große Rechenzentren und Cloud-Anwendungen genutzt werden.

Sima.ai-Gründer und CEO Krishna Rangasayee ist stolz auf das, was er erreicht hat. Er ist seit 25 Jahren eine feste Größe im Silicon Valley und Inhaber mehrerer hochkarätiger Patente für die Software- und Chipindustrie. Vor allem aber brennt der 53-jährige Stanford-Absolvent darauf, seine neuen Chips im Praxiseinsatz zu sehen – die Serienproduktion startete im Juni 2023.
 

Das Unternehmen hat zudem eine Partnerplattform aufgebaut, über die Kunden Zugang zu den Chips und einer darauf integrierten Software erhalten sollen. Der CEO verrät nicht, wer seine ersten Kunden sind und wofür genau seine Chips genutzt werden könnten. Nur so viel gibt er preis: Sima.ai arbeite bereits aktiv mit mehr als 50 marktführenden Unternehmen aus den Bereichen Fertigung, Einzelhandel, Automobilindustrie, und Luftfahrt sowie mit Behörden zusammen.

Rangasayee geht davon aus, dass etablierte Industrieunternehmen und Hardwarehersteller wie Sima.ai in Zukunft bei der Produktentwicklung enger zusammenarbeiten. Denn: Ob es gelingt, eine Welt mit autonomen Fahrzeugen, Roboterchirurgen und intelligenten Fabriken zu realisieren, sei nicht zuletzt eine Frage der Hardware. Und er hält weitere Leistungssprünge bei KI-Chips für möglich. „Wir haben gerade erst an der Oberfläche der Fähigkeiten und der Leistung gekratzt.“

Interview

„Die nächsten ein bis zwei Jahre werden entscheidend sein“

Im Interview mit SCIO erklärt der renommierte KI-Forscher Damian Borth, welche KI-Experten Unternehmen jetzt brauchen und wie der weltweite KI-Wettlauf weitergehen wird.

Herr Borth, was müssen Unternehmen beim Einsatz von KI beachten?

Prof. Dr. Damian Borth

Direktor des Instituts für Informatik an der Schweizer Universität St. Gallen, Professor für Künstliche Intelligenz

Wir sind heute mit Künstlicher Intelligenz dort, wo die Softwareentwicklung in den 1990ern war. Das heißt, wir haben die ersten KI-Lösungen gebaut und testen jetzt, ob die Technologie aus dem Labor auch in der echten Welt funktioniert.

Wir müssen uns darauf gefasst machen, dass dort manche Dinge Probleme bereiten werden, damit müssen wir umgehen und Lösungen finden. Das heißt aber nicht, dass man deshalb die Finger davon lassen sollte, im Gegenteil. Man muss sich jetzt mit der Frage beschäftigen: Wie teste ich KI-Modelle und wie stelle ich sicher, dass sie zu meinem Zweck verlässlich und sicher funktionieren?

Wie schnell müssen Unternehmen handeln?

Wir haben den großen Durchbruch mit Deep Learning im Jahr 2012 gehabt. Das heißt: Mittlerweile haben wir seit einer Dekade KI, die Daten analysiert. Mit der generativen KI haben wir nun seit 2022 zusätzlich ein System, das aus Daten eigenständig Bilder, Audios und Texte erzeugen kann. Man sieht also: Die Entwicklung geht in großen Schritten voran. Unternehmen sollten sich spätestens jetzt umstrukturieren und neue Ressorts schaffen, die sich mit diesen Entwicklungen auseinandersetzen.

Wie kann das in der Praxis aussehen? Was müssen Unternehmen tun, um „KI-ready“ zu werden, um die Technologie also sinnvoll einsetzen zu können?

Viele Unternehmen stehen noch relativ am Anfang. Natürlich gibt es hier und dort schon den Chief Digital Officer oder andere Ressorts, die eine Digitalisierung der Geschäftsmodelle und Prozesse vorantrei- ben. Dort kann man dann auch das Thema KI ansiedeln, denn wenn man die Prozesse digitalisiert hat, fangen die Möglichkeiten von Deep Learning erst richtig an. Eine andere Position, die diese Möglichkeiten vorantreiben könnte, wäre so etwas wie ein Chief Data Officer. In jedem Fall müssen die Ressorts dazu befähigt werden, neue Arten von Software ausprobieren und anwenden zu können, zum Beispiel Open-Source-Software.

Sie selbst haben in Taiwan, Deutschland und in den USA an der Columbia University und in Berkeley geforscht. Was ist Ihre Einschätzung: Kann Europa im aktuellen Wettbewerb um die Weiterentwicklung von KI-Anwendungen mithalten?

Der Markt in Europa ist kleiner und hat damit weniger Geld als in den USA. Das zeigt sich auch in den Gehaltsstrukturen. Gut ausgebildete Experten gehen derzeit tatsächlich oft eher in die USA, weil sie dort besser verdienen. Doch auch in Europa tut sich einiges. Wir haben zum Beispiel in Deutschland hervorragende Universitäten, die in der Forschung international vordere Plätze belegen. Immer mehr Startups gründen sich, die vielversprechend sind. Das zeigt, dass Europa Lehren aus den vergangenen zehn Jahren ziehen will.

Wird die Entwicklung der KI jetzt weiterhin so große Sprünge machen wie zuletzt oder wird es erstmal ein Entwicklungsplateau geben?

Wir haben noch lange kein Plateau erreicht – wir sind vielmehr in der Entwicklung gerade dabei, weiter zu beschleunigen. Die nächsten ein bis zwei Jahre werden noch verrückt werden. Das werden entscheidende Monate für Forscher und Unternehmen sein, in denen neue Anwendungsmöglichkeiten für KI entstehen.

Welche Branchen können davon besonders profitieren?

Produzierende Unternehmen, die je nach Branche heute schon hoch automatisiert sind, werden eine neue Welle der Automatisierung erfahren. Vor allem die Kombination von KI und Industrial IoT, also dem industriellen Internet der Dinge, wird diese Entwicklung in den kommenden Monaten und Jahren rasant vorantreiben. Im Maschinenbau werden neue Möglichkeiten im Computer Aided Design entstehen. In der Pharmaindustrie werden neue Medikamente viel schneller entwickelt werden. In der Chemieindustrie wird man ein neues Verständnis von Molekülen und deren Wechselwirkungen herausbilden. Und in der Materialforschung werden neue Syntheseprozesse entstehen. Es wird also sehr viel im Kerngeschäft produzierender Unternehmen passieren. Zugleich wird sich auch viel in Bereichen neben dem Kerngeschäft verändern.

Welche Bereiche sind das?

Im Grunde alle Büro-Jobs – von Marketing bis Personal. Wir sind jetzt ja nicht bei der industriellen Revolution, wo Dampfmaschinen körperliche Arbeit übernommen haben, etwa um schwere Objekte zu bewegen. Die KI kann uns kein Haus bauen und keinen Handwerker ersetzen. Wir befinden uns in einer Wissensgesellschaft. KI wird uns dabei helfen, intellektuelle Probleme zu lösen und intellektuelle Arbeit zu automatisieren.

 

Prof. Dr. Damian Borth ist einer der profiliertesten europäischen Forscher im Bereich der Künstlichen Intelligenz: Er hat in Europa, Taiwan und in den USA geforscht, unter anderem an der für ihre KI-Forschung renommierten Universität Berkeley und der Columbia University. Er gilt als Pionier im Bereich Deep Learning. Heute ist Borth Direktor des Instituts für Informatik an der Schweizer Universität St. Gallen und hat dort eine Professur für Künstliche Intelligenz inne. Zuvor war er Gründungsdirektor des Kompetenzzentrums Deep Learning am Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI).